Seit der Jahrtausendwende haben sich die Erkenntnisse zur Multiplen Sklerose vervielfacht. Es wird allerorts geforscht und Wissenschaftler suchen weltweit nach Gewissheit zu ungeklärten Fragen rund um MS: Welche effizienten Behandlungsmöglichkeiten können entwickelt werden? Wird MS jemals heilbar sein? Kann sich das bei MS zerstörte Myelin zurückbilden? Was ist die Ursache für die Autoimmunreaktion, die zum Krankheitsbild der MS führt? Wir geben Ihnen heute ein kurzes Update darüber, an welchen Stellschrauben die Forschung aktuell in Deutschland dreht.
233 Genomvariationen begünstigen Multiple Sklerose
Universitätsmedizin Mainz und die IMSGC
Die Forscherinnen und Forscher erkunden genetische Marker, die bei der Entstehung der MS beteiligt sind und prüfen, ob diese Marker verwendet werden können, um Vorhersagen über die Entwicklung der Multiplen Sklerose zu machen. Das Team von Prof. Dr. Frauke Zipp, Direktorin der Klinik und Poliklinik für Neurologie der Universitätsmedizin Mainz, testet ob und wie DNA-Abschnitte auf eine Veränderung kognitiver Fähigkeiten schließen lassen können. Und ob Vorhersagen über eine künftige Neurodegeneration getroffen werden können bzw. wie man sich vor dem Eintreten einer Neurogeneration schützen könnte.
Die Studie ist international angelegt – in Zusammenarbeit mit dem „International Multiple Sclerosis Genetic Consortium“ (IMSGC). Sie trägt den langen Namen: „Multiple Sclerosis genomic map implicates peripheral immune cells and microglia in susceptibility“ – dt.: „Genomkarte der Multiplen Sklerose impliziert eine Anfälligkeit peripherer Immunzellen und Mikroglia“.
Bei der MS greift das eigene Immunsystem die Schutzschicht der Nerven an, wodurch Entzündungen entstehen, die die Symptome verursachen. Nach aktuellem Kenntnisstand gibt es viele Gründe, weshalb sich eine Multiple Skerlose entwickelt. Das Forschungsnetzwerk hat im menschlichen Genom 233 Variationen identifiziert, die dazu führen, dass ein Mensch anfälliger für Multiple Sklerose ist. Diese Genomvariationen beeinflussen Immunzellen und initiieren eine Fehlfunktion des Immunsystems, welches dadurch das eigene Nervensystem angreift. Die Wissenschaftler entdeckten, dass die Immunzellen des Gehirn – Mikroglia genannt – eine besondere Rolle dabei spielen – die allerdings noch nicht ganz eindeutig geklärt ist.
Ein weiteres Ergebnis dieser Forschung ist, dass ein MS-auslösender DNA-Abschnitt auf dem X-Chromosom liegt. Da dieses Geschlechtschromosom bei Frauen zweifach vorliegt, könnte das Forschungsergebnis ein erster Erklärungsversuch sein, weshalb Frauen häufiger als Männer MS entwickeln, sagt Dr. Nikolaos Patsopoulos vom Brigham & Women’s Hospital an der Harvard Medical School, der an der Studie mitwirkte.
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MS-Diagnosehelfer: Neurofilamente
Johannes Gutenberg-Universität Mainz und das Kompetenznetz Multiple Sklerose e.V.
MS wird derzeit per Ausschlussverfahren diagnostiziert. Daher untersuchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universitätsmedizin Mainz das Potenzial eines neuen Biomarkers bei der Diagnose und Prognose von MS. Diesen Biomarker hat das Forschungsteam in Zusammenarbeit mit dem Kompetenznetz Multiple Sklerose e.V. gefunden. Er heißt NFL (Neurofilament-Leichtketten-Protein).
Wieso NFL? Das Eiweiß wird in den Nervenzellen gebildet. Werden diese – wie bei Multipler Sklerose – beschädigt, tritt NFL aus und die Konzentration des Proteins im Nervenwasser erhöht sich. In einer Studie mit über 800 Teilnehmern wurde entdeckt, dass bei Personen mit neuronaler Schädigung die MS tatsächlich früher festgestellt werden kann. Dies kann künftig zu einer effizienten Therapie der Erkrankung führen.
Prof. Dr. Frauke Zipp sagt zu dieser neuen Methode: „Bisher wird NFL in der Praxis nicht standardmäßig bestimmt und nicht jede Klinik hat die notwendige Technik, um eine Bestimmung durchzuführen. Unsere Ergebnisse unterstützen weitere Forschungsbemühungen bezüglich dieses vielversprechenden Biomarkers für eine personalisierte Medizin, d. h. genaue Abstimmung auf den individuellen Verlauf der Erkrankung.“
Die Ergebnisse der Studie wurden im „EBioMedicine“ unter dem Titel „Clinical implications of serum neurofilament in newly diagnosed MS patients: A longitudinal multicentre cohort study“
publiziert – dt. „Klinische Auswirkungen des Serum-Neurofilaments bei neu diagnostizierten MS-Patienten: Eine longitudinale multizentrische Kohortenstudie“.
Lässt sich die Myelinscheide bei MS wieder aufbauen?
Johannes Gutenberg-Universität Mainz und die Université de Fribourg
Das Team der Neurobiologin Prof. Dr. Claire Jacobs hat einen Mechanismus entdeckt, der für die Wiederherstellung der Myelinscheide verantwortlich ist. Diese Schutzschicht der Nerven wird infolge von Traumata oder einer degenerativen Erkrankung wie MS beschädigt.
Bei Mäusen wurde die Myelinschicht durch eine Behandlung mit dem Wirkstoff Theohyllin repariert – damit wurde die Funktion der Nervenzellen wiederhergestellt.
Das Ziel der Forschung ist es, die Schutzschicht der Nerven wiederherzustellen (das wird Remyelinisierung genannt), um ein funktionsfähiges peripheres und zentrales Nervensystem zu bauen.
„Damit wir den Wiederaufbau von Myelin unterstützen können, müssen wir den Prozess verstehen, der den Mechanismus steuert“, sagt Prof. Dr. Jacob. Und sie sind auf einem guten Weg: Identifiziert wurde das Protein eEF1A1. Ist dieses Protein aktiviert, wird der Wiederaufbau der Myelinhülle gestoppt – wird das Protein eEF1A1 deaktiviert, kann die Remyelinisierung stattfinden. Und Inaktiv gesetzt werden, kann das spezielle Protein bereits im Zellkern durch ein besonderes Enzym namens Histon-Deacetylase HDAC2.
Prof. Dr. Jacob: „Nachdem wir diesen Prozess verstanden hatten, wollten wir ihn modulieren, indem wir die Aktivität und die Synthese von HDAC2 in den Zellen erhöhen.“. Hier kommt das erwähnte Theophyllin zu Einsatz, das natürlicherweise in Teeblättern enthalten ist und bereits bei der Therapie von Asthma verwendet wird: Es erhöht die Aktivität und die Produktion des Enzyms Histon-Deacetylase HDAC2.
Der Forschungsbericht wurde im Fachjournal „Nature Communications“ unter dem Namen „EEF1A1 deacetylation enables transcriptional activation of remyelination“ veröffentlicht – dt. „EEF1A1-Deacetylierung ermöglicht transkriptionelle Aktivierung der Remyelinisierung.“ Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels wird noch nach einer Finanzierungsmöglichkeit für die entsprechende klinische Studie an Patienten gesucht.
Neue MS-Bekämpfungsstrategie in Sicht? – Zielobjekt: Monozyten
Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC)
Es ist bekannt, dass Immunzellen – T- und B-Zellen – bei der Multiplen Sklerose körpereigene Myelinscheiden fälschlicherweise als fremd betrachten: Sie wandern in das Gehirn ein und lösen das Krankheitsbild der MS aus. Bisher verfügbare Therapien der MS richten sich daher in erster Linie gegen diese autoreaktiven Immunzellen. Diese Therapien beeinträchtigen allerdings das Immungedächtnis des Körpers – er gerät sozusagen aus dem Konzept und ist damit anfälliger für Infektionen.
Die MDC-Arbeitsgruppe forscht nach einer alternativen Behandlungsmöglichkeit. Sie hat entdeckt, dass nicht nur T- und B-Zellen Schuld am Gewebeschaden der MS tragen. Dr. Alexander Mildner, Teil des Teams, untersucht Monozyten – besondere weiße Blutkörperchen. Sie wandern im Blut umher und verwandeln sich in Fresszellen, um körperfremdes Gewebe anzugreifen – oder im Fall einer MS: das eigene Gewebe. Das führe zu Entzündungen und Schäden am zentralen Nervensystem. Allerdings zerstören nicht alle Monozyten das nervenschützende Myelin – nur sogenannte Cxcl10+-Zellen. Diese gingen in einem experimentellen Forschungsmodell mit Mäusen zugrunde.
„Unsere Forschung legt nahe, dass T-Zellen als Krankheitsinitiatoren ins zentrale Nervensystem (ZNS) wandern, um dann dort Monozyten anzulocken, die für den primären Gewebeschaden verantwortlich sind“, erklärt Dr. Mildner.
Der Forschungsbericht erschien im „Nature Immunology“ unter dem Titel „Cxcl10+ monocytes define a pathogenic subset in the central nervous system during autoimmune neuroinflammation“ – dt. „Cxcl10+-Monozyten definieren eine pathogene Untergruppe im Zentralnervensystem während autoimmuner Neuroinflammation“.
Frühform der MS hat ein spezielles Muster – das zeigt eine Studie mit eineiigen Zwillingen
Ludwig-Maximilians-Universität – LMU Klinikum
Die LMU hat etwas extrem seltenes gesucht: Eineiige Zwillinge – davon eines an Multipler Sklerose erkrankt. Und einige der besonderen Zwillingspaare haben die Forscherinnen und Forscher gefunden, um deren Blutproben zu analysieren. Dabei haben sie sich die Frage gestellt: Gibt es bei einer Krankheit mit tausend Gesichtern vielleicht doch ein typisches Muster?
Warum man sich Zwillinge angesehen hat: Die deutschlandweite MS-Zwillingskohorte umfasst zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels 85 eineiige Zwillingspaare, von denen jeweils ein Zwilling an MS erkrankt, der andere jedoch zumindest „klinisch gesund“ ist. Da jeder Zwilling jeweils dieselben Gene wie der andere trägt, eignen sie sich, um die Rolle nicht-genetischer Einflüsse auf die MS-Entstehung zu erforschen. Wie zum Beispiel den Einfluss der Darmflora (Mikrobiota) oder die Rolle epigenetischer Veränderungen. Die Studie des LMU Klinikums München steht unter der Leitung von Priv.-Doz. Dr. Lisa Ann Gerdes und Prof. Dr. Reinhard Hohlfeld und wird u.a. gefördert von der DFG (Exzellenzcluster SyNergy), der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung und dem DMSG (Bundesverband und Landesverband Bayern). Publiziert wurde der Artikel: „Immune signatures of prodromal multiple sclerosis in monozygotic twins“ – dt. „Immunsignaturen der prodromalen Multiplen Sklerose bei eineiigen Zwillingen“ – im Fachjournal „PNAS“.
Die Arbeitsgruppe der LMU fand heraus, dass sich die Zusammensetzung der einzelnen Zelltypen im Blut bei den Zwillingspaaren kaum unterschied. Die Studie kam zu dem interessanten Ergebnis, dass etwa ein Prozent des Genmaterials dafür verantwortlich ist, ob das Krankheitsbild der Multiplen Sklerose ausbricht oder nicht.
Ursache für die Entstehung der MS: Welche Rolle spielt der Darm?
Ruhr-Universität Bochum
Ein potenzieller Faktor, der zur Autoimmunreaktion der Multiplen Sklerose führt, könnte nach jüngsten Schlüssen der Wissenschaft das Protein Smad7 sein. Es signalisiert den Immunzellen im Darm, sich zu mobilsieren. Die greifen dann das eigene Nervensystem an.
Eine Arbeitsgruppe am St. Josef-Hospital, dem Klinikum der Ruhr-Universität Bochum, untersuchte dieses sogenannte Signalprotein Smad7 im Darm – in den T-Zellen. Smad7 trat in Darmschleimhautproben von Menschen mit MS häufiger auf als bei Menschen ohne. Prof. Dr. Ingo Kleiter aus der Marianne-Strauß-Klinik in Berg kooperiert mit den Bochumer Kollegen und ist Teil des Forschungsteams. Er sagt: „Für andere Autoimmunerkrankungen wie Morbus Crohn und weitere entzündliche Darmerkrankungen ist bereits bekannt, dass Smad7 ein vielversprechendes Therapieziel darstellt; unsere Ergebnisse legen nahe, dass das auch bei Multipler Sklerose so ist.“
Die Studie wurde ebenfalls im „PNAS“ veröffentlich unter dem Titel: „Smad7 in intestinal CD4+ T cells determines autoimmunity in a spontaneous model of multiple sclerosis“ – dt. „Smad7 in intestinalen CD4+ T-Zellen bestimmt die Autoimmunität in einem Spontanmodell der Multiplen Sklerose.“
Fazit
Die meisten zugelassenen Therapien der Multiplen Sklerose wurden in den vergangen Jahren erst entdeckt und entwickelt – sie richten sich überwiegend gegen die Funktion der T- und B-Zellen, die eine wichtige Rolle bei den Autoimmunreaktionen der MS spielen. Es wird intensiv danach geforscht, welche alternativen, effizienteren Behandlungsmöglichkeiten entwickelt werden können. Und natürlich auch, welche Ursache die Multiple Sklerose tatsächlich hat. Auf dem Weg zum nächsten Durchbruch ist die Forschung bemüht, Wissenslücken zu füllen.
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