Diagnose MS: Wie bringt man seinen Kindern bei, dass man Multiple Sklerose hat?

Caro lebt seit Jahren mit Multiple Sklerose, ist glückliche Mutter von zwei Kindern und erzählt von einer der wohl schwersten Aufgabe in ihrem Leben. Ein ganz persönlicher und emotionaler Erfahrungsbericht.

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Caroline Régnard-Mayer
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Multiple Sklerose ist eine chronische Erkrankung mit der über 200.000 Menschen in Deutschland leben. Mit einer Krankheit klarzukommen deren Verlauf meist ungewiss ist und auf deren Diagnose man sich nicht vorbereiten kann, ist dabei oft schon schwer genug. Kurz nach der Diagnose liegen die Nerven erstmal blank. Ist der erste Schock verdaut, tauchen schnell neue Herausforderungen und Fragen auf. Eine der wohl schwierigsten Fragen ist dabei die Frage, wie man seinen Liebsten und insbesondere seinen eigenen Kindern von der Diagnose erzählt und, wie es danach weitergeht. Caro (Caroline Régnard-Mayer) lebt bereits seit über 10 Jahren mit der Diagnose MS und ihre Kinder sind mittlerweile erwachsen. In ihrem Erfahrungsbericht berichtet sie davon, wie es ist, seinen Kindern von der Diagnose MS zu erzählen, wie es ihr dabei ergangen ist und sie diese Aufgabe bewerkstelligt hat. Eine Geschichte die Mut macht und zeigt, dass sich auch diese Hürde meistern lässt.

Meinen Kindern, die Diagnose Multiple Sklerose zu erklären, war eine meiner schwersten Aufgaben im Leben. Da es außerdem auch immer auf das Alter der Kinder ankommt, ein paar Worte zu mir, damit Sie – liebe Leser – die beschriebenen Situationen verstehen können.

Ich lebe mit meinen zwei Kindern Joel, 18 Jahre, und Sarah, heute 22 Jahre alt, seit über 16 Jahren alleine und bin seit 2001 alleinerziehende Mutter. Mein geschiedener Mann ist 2011 an einem Gehirntumor verstorben; der Kontakt zu seinen Kindern war mäßig seit seinem Auszug 2001. Somit war es für meine Kinder nicht leicht alleine mit einer Mama aufzuwachsen, die eine chronische Krankheit (Multiple Sklerose) hat.

Nach der Diagnose versuchte ich einigermaßen kindgerecht, wenn dies denn überhaupt möglich ist, den Kindern die Krankheit zu erklären. Meine Freundin Katja lieh mir das Buch „Benjamin – meine Mama ist besonders“ vom Baumhaus Verlag aus, in dem zwei Kinder und ihre Mutter in derselben Situation wie wir waren. Es wurde die Krankheit MS erklärt, einfache Dinge, wie die möglichen Auswirkungen der MS, Untersuchungen und Klinikaufenthalte besprochen, ebenso, wie über die Nebenwirkungen der Medikamente berichtet.

Joel, wissbegierig wie er ist, habe ich das Buch vorgelesen und seine Fragen beantwortet. Sarah hat dieses Buch bis zum heutigen Tag nicht angerührt – die Fragen kamen mit der Zeit und dosiert. Sie wollte so wenig wie möglich darüber wissen. Sie hofft heute, dass ich so lange wie denkbar, stabil bleibe und meine MS – jetzt im chronisch progredienten Verlauf – mich noch lange mobil mein Leben und den Alltag leben lässt.

Seit zwei Jahren bin ich im betreuten Wohnen vor Ort angemeldet, da es jahrelange Wartelisten gibt und ich für den „Ernstfall“ vorbereitet sein möchte. Außerdem will ich mitentscheiden, wo ich in Zukunft leben werde. Es gibt mir ein gutes Gefühl, dass meine Kinder erstmal außen vor sind und ich niemandem zur Last falle. Sarah und Joel sollen und müssen ihren eigenen Weg gehen, ganz unabhängig von ihrer Mama. Alles Finanzielle und Vollmachten wurden bereits kurz nach der Erkrankung geregelt und all die Jahre entsprechend angepasst.

Nach der Diagnose 2004 war ich selbst verstört und weinte viel. Erst nach Wochen konnte ich mit meinen zwei Kleinen über die MS und die Veränderungen sprechen, beispielsweise meine damalige Spritzentherapie und meine körperlichen Einschränkungen. Beide sind mit den Jahren in die veränderte Lebenssituation hineingewachsen, wobei mein Sohn, vermutlich auch aufgrund seines jungen Alters, es besser verarbeiten und akzeptieren konnte. Er verstand zu wenig zu Beginn. Meine Tochter erfasste schnell und nahm angstvoll das „neue“ Leben wahr. Der Papa krank, die Mama auch – eine schwierige und belastende Konstellation für ein kleines Kind von neun Jahren. Beide mussten von heute auf morgen in den Ganztagskindergarten bzw. in die Ganztagsschule. Der Auszug aus unserem gemeinsamen Haus, die väterliche Bezugsperson, eine Mietwohnung, finanzielle Verluste, ich als MTLA im Schichtdienst, Gerichtsprozesse … es gab sehr viel zu verkraften und verarbeiten.

Schwierig für kleine Kinderseelen und doch habe ich es geschafft, dass beide Kinder heute zielstrebig ihren Weg gehen und sich mit meiner MS „angefreundet“ haben. Das war nicht immer so – beispielsweise in der Pubertät.

Heute sind meine Hilfsmittel kein Problem mehr für beide. Die Kinder spüren, wenn es mir nicht gut geht und helfen, wo sie nur können. Aber es gab ebenfalls zig gute Tage in den letzten 16 Jahren und die haben wir genossen und zusammen verbracht, genau wie andere Familien auch.

Man kann nur erahnen, was in den Köpfen der Kinder vorgeht. Das bestätigen mir viele E-Mails von Töchtern, deren Mütter oder Väter, so wie ich, von der Krankheit Multiple Sklerose betroffen sind. Ich antwortete ihnen aus der Sicht einer Betroffenen und als Mutter.

Betroffen machen mich die Worte über die Leiden und Ängste der Töchter, die mir schrieben. Ihre schmerzhafte Beobachtung über das Anderssein ihrer Mütter oder Väter, ihre Hoffnungen und Tiefschläge konnte ich beim Lesen fast hautnah spüren. Es macht mich sehr traurig, nur meine Erfahrungen, Empfindungen und Hoffnungen beschreiben zu können. In solchen Situationen merkt man, dass jeder für sich alleine mit dem Dämon in Form der MS zurechtkommen muss; der Betroffene mit seinen körperlichen Einschränkungen, Verlustängsten und manch seelischem Leid, welche diese Krankheit mit sich bringen und die Kinder und Partner, Eltern und Freunde, die nicht betroffen, aber zutiefst getroffen sind, müssen lernen, die Krankheit anzunehmen und jeweils mit ihr umzugehen.

Meine zwei Kinder kannten mich als Energiebündel, als Mutter, die alles konnte und leistete. Als ich damals, während meiner neuerlichen Berufstätigkeit, die Diagnose erhielt, waren meine Tochter neun Jahre und mein Sohn fünf Jahre alt.

Sarah, gesundheitlich instabil durch ihre Asthmaerkrankung und die Folgen von vier Hüftoperationen, war seelisch durchgeschüttelt von dem Auszug aus unserem gemeinsamen Haus, dem Verlust ihrer väterlichen Bezugsperson, von meiner neuen Lebenssituation als MTLA im Schichtdienst, von ihrem Ganztags-Schulbesuch und letztendlich der hellhörigen Mietwohnung, in der man nur schleichen und unauffällig leben durfte.

Joel musste von heute auf morgen den Ganztagskindergarten besuchen, nachdem er die einschneidende familiäre Umstellung und die mangelnde Zeit, die mir durch die Berufstätigkeit und die plötzlichen Diagnosestellung blieb, noch nicht einmal richtig verarbeitet hatte. Ich war selbst im Ausnahmezustand, musste den Teufelspakt mit der MS verarbeiten, die Kündigung in der Probezeit aufgrund der Diagnose und die Nebenwirkungen der Interferone.

Was haben da wohl meine Kinder empfunden? Sie waren oft ängstlich, ich konnte es ihnen in den Augen und Gesichtern ansehen. Wenn ich mich schon machtlos fühlte, wie machtlos haben sich meine zwei Lieben nur gefühlt! Ihre Ängste äußerten sie bei jedem Schub erneut, und es waren ja nicht wenige Schübe.

Auch aus finanzieller Sicht war die Zukunft oft ungewiss. Das Wort sparen war ständig präsent. Nach der Entlassung wegen eines schweren Schubs musste ich für siebeneinhalb Wochen in die Reha-Klinik nach Bad Buchau. Da nicht genügend Geld zur Verfügung stand und die Entfernung 200 km betrug, konnte ich meine Kinder während der ganzen Zeit nicht sehen. Zwar wusste ich sie bei meinen Eltern in den besten und liebevollsten Händen, aber dennoch war es nicht nur für mich eine Horrorzeit.

Im November 2009 hatte ich, nach vielen milderen Schüben, wieder einen Schub, bei dem ich nicht mehr laufen und überhaupt nichts mehr zu Hause erledigen konnte. Die Kinder gingen morgens in die Schule und ich wurde von meinem Neurologen direkt ins Pfalzklinikum überwiesen. Ich musste beide Schulen meiner Kinder informieren, damit sie nach Schulende zu ihrer Oma gingen, da ich bereits stationär in der Klinik lag. Es war sicher ein Schock für sie, die Meldung von der Lehrerin zu erhalten. Während meiner vielen Klinikaufenthalte kam nur mein Papa mit Joel zu Besuch ans Krankenbett. Mein Sohn brauchte dann die Gewissheit, mich zu sehen und dass es mir „gut“ ginge. Meine Sarah blieb dann immer bei meiner Mama. Sie konnte so besser mit der Situation und ihren Gefühlen umgehen. Ich spürte ihren Hass am Telefon. Nicht gegen mich, sondern gegen diese so unberechenbare Krankheit. Sie hatte Angst vor der Zukunft, vor dem ungewissen Verlauf und, was die MS noch mit mir vorhaben könnte. Beide Kinder haben so ihren Weg für sich gefunden, mit ihren Gefühlen und den daraus resultierenden Lebensumständen umzugehen. Beides respektiere ich und ich bin traurig, ihnen das nicht ersparen zu können.

Nach meinen Empfindungen sind sie zu schnell „erwachsen“ geworden. Auch wenn ich in den „gesunden“ Zeiten immer für sie da bin und war. Ich weiß auch, dass sie sich dieselben Fragen stellen, wie die Söhne und Töchter, die mir geschrieben haben. Warum geht meine Mama nicht arbeiten, wie jede allein erziehende Mutter heutzutage? Wann kommt der nächste Schub? Wird meine Mama mal nicht mehr laufen können? Wie geht es dann mit uns weiter? Hilft ihr die jetzige Therapie? Wird sie wieder gesund? Warum ist sie oft müde und muss schlafen? Muss ich mich später um sie kümmern, damit sie nicht so allein ist? Braucht sie meine ständige Hilfe? Warum kann nicht wieder alles so sein wie früher? Wie kann ich ihr nur helfen?

Kindgerechte Gespräche über die Erkrankung fruchten nur selten. Denn was beide Kinder sehen, muss nicht noch in der Theorie erklärt werden. Trotz unseres Alltags mit der MS und den Schwierigkeiten, meine Ausfallszeiten zu organisieren und durchzustehen, arrangieren wir uns bis heute mit „ihr“, und lassen uns nicht unterkriegen. Wir haben uns lieb und sind für einander da – jeder auf seine Art!

Nur das ist wichtig: Seien Sie für Ihre Kinder da, sprechen Sie über Ihre Krankheit entsprechend dem Alter und beantworten Sie ihre Fragen. Leben Sie Ihr Leben mit der Familie, organisieren Sie sich neu und geben sich gegenseitig Halt – der „neue“ Weg ist nicht so viel anders als bei anderen ohne MS.

Ich wünsche Ihnen Mut nach vorne zu schauen, denn Sie sind der selbe Mensch wie vor der Diagnose – nur eben mit gewissen Einschränkungen und wer hat die heute nicht?

UND: Lassen Sie sich niemals von ihrem Umfeld etwas vorschreiben, wie man leben soll und „muss“. Seien Sie stark für Ihre Kinder, dann werden es lebensstarke Menschen, die viel geben können und voller Liebe aufwachsen. Ich habe es geschafft, dann werden Sie es auch können! Ansonsten schreiben Sie mich an ;-)

Ihre Caroline Régnard-Mayer


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