“Ist Multiple Sklerose vererbbar?” Die Rolle der Genetik bei MS

Die Genetik spielt eine Rolle bei der Entwicklung von MS - aber es gibt auch noch andere Puzzleteile.

Profile picture
Dan
MyTherapy für MS entdecken

Multiple Sklerose (MS) ist nicht vererbbar. Wie bei anderen Autoimmunerkrankungen wird jedoch angenommen, dass die Gene einer Person, die an MS erkrankt ist, eine gewisse Rolle spielen. Wir untersuchen, wie groß diese Rolle ist, welche anderen Faktoren MS verursachen sollen und wie das Zusammenfügen der einzelnen Faktoren zur Weiterentwicklung von Therapien führen kann.

Was verursacht Multiple Sklerose?

Kurz gesagt: Man weiß es nicht.

Die ausführlichere Antwort ist, dass es keine alleinige Ursache für MS zu geben scheint. Vielmehr spielt eine komplexe Kombination verschiedener Faktoren eine Rolle. Abgesehen von der Genetik können folgende Forschungsfelder helfen, die einzelnen Puzzlestücke zusammenzusetzen:

  • Infektionserreger - Untersucht die Rolle, die Viren bei der Entwicklung von MS spielen
  • Epidemiologie - Untersucht große Bevölkerungsgruppen und warum einige Regionen höhere MS-Raten haben als andere
  • Immunologie - Untersucht das Immunsystem und was es dazu veranlasst, gesunde Zellen anzugreifen

Die Rolle der Genetik bei Multipler Sklerose

Wie bei den meisten Autoimmunerkrankungen ist auch Multiple Sklerose nicht vererbbar. Es wird also nicht in einer berechenbaren Art und Weise weitervererbt, wie beispielsweise Mukoviszidose.

Das Risiko, dass ein Kind eine Krankheit wie Mukoviszidose entwickelt ist recht einfach zu berechnen, da die Krankheit durch die Mutation eines bestimmten Gens verursacht wird. Wenn beispielsweise beide Elternteile das defekte Gen tragen, beträgt das Risiko 25%.

Bei MS ist das Ganze weniger berechenbar. Variationen (Allele) von über 200 Genen wurden bereits mit der Krankheit in Verbindung gebracht, stellen aber jeweils nur einen geringen Risikoanstieg dar. Je mehr dieser Variationen man hat, desto wahrscheinlicher ist es, dass man MS entwickelt, aber kein Gentest kann diese Wahrscheinlichkeit genau vorhersagen.

Die vielleicht aufschlussreichste Statistik über die Rolle der Genetik bei der Entwicklung von MS bezieht sich auf eineiige Zwillinge, welche dieselbe genetische Struktur haben. Wenn einer der Zwillinge mit MS lebt, gibt es eine Chance von etwa 25%, dass der andere sie auch entwickeln wird. Wäre MS eine rein erbliche Krankheit, würden entweder beide oder keiner von beiden sie entwickeln.

Vergleichsweise ähnlich sind die Statistiken des geschätzten Risikos, an MS zu erkranken wenn ein anderes Familienmitglied davon bereits betroffen ist, wie in dieser australischen Studie aufbereitet:

  • nicht-identischer Zwilling: 1 von 22
  • weiteres Geschwisterkind: 1 von 37
  • Elternteil: 1 von 67
  • Kind: 1 von 48

Das Risiko, im Laufe seines Lebens an MS zu erkranken, wird in der Allgemeinbevölkerung auf 1 von 330 und auf 1 von 1000 geschätzt (die geografische Lage erklärt in mancher Hinsicht die große Diskrepanz dieser Zahlen, auf die wir allerdings später noch näher eingehen werden).

Was wir aus diesen Informationen schließen können ist, dass genetische Faktoren eindeutig eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von MS spielen, aber bei weitem nicht die ganze Geschichte erzählen.

Ihre Gene können somit Ihre persönliche Anfälligkeit für MS bestimmen, aber es scheint etwas andres zu sein, das bestimmt, ob Sie die Krankheit tatsächlich entwickeln oder nicht.


Folgende Artikel über MS könnten Sie auch interessieren:


Sind Viren der Auslöser für Multiple Sklerose?

Seit jeher wird angenommen, dass Viren Autoimmunerkrankungen auslösen können. Bei MS gehört das Epstein-Barr-Virus (EBV) zusammen mit anderen Mitgliedern des menschlichen Herpesvirus (u.a. Varicella-Zoster-Virus und humanes Herpesvirus 6) zu ebendiesen Viren, die genau das tun sollen.

Ebenfalls im Gespräch sind sogenannte Antigene. Antigene sind Marker, die jede Zelle hat. Die in Ihrem Körper produzierten, sogenannten Körpereigenen Antigene, sind für jeden Menschen einzigartig. Wenn Ihr Körper fremde Antigene bemerkt, beispielsweise von Viren oder Bakterien, wird Ihr Immunsystem dazu veranlasst, darauf zu reagieren und diese zu bekämpfen.

Wenn EBV-Antigene den Auto-antigenen in Teilen Ihres zentralen Nervensystems (z.B. dem Myelin-Basisprotein) ähneln, könnte dies dazu führen, dass das Immunsystem fälschlicherweise sowohl die gesunden Zellen als auch die fremden Eindringlinge angreift. Dieses Phänomen wird als "molekulare Mimikry" bezeichnet.

Mindestens 90% der Weltbevölkerung soll von EBV infiziert sein, in der Regel führt eine Infektion des Virus allerdings nicht zu Symptomen. Dementsprechend kann eine Infektion allein kein MS verursachen. Führt das EBV jedoch zu Symptomen - oftmals in Form infektiöser Mononukleose (Mono) - erhöht dies allerdings aller Ansicht nach das Risiko einer MS.

Interessanterweise wird EBV, wenn es zu Mono führt, ebenfalls mit mindestens sechs weiteren Autoimmunerkrankungen in Verbindung gebracht: Lupus erythematodes (SLE), rheumatoide Arthritis (RA), juvenile idiopathische Arthritis (JIA), entzündliche Darmerkrankungen (IBD), Zöliakie und Typ-1-Diabetes, wie Sie in diesem englischsprachigen Artikel nachlesen können.

Dies könnte zumindest teilweise erklären, warum Menschen, die bereits mit einer Autoimmun­erkrankung leben, oftmals Gefahr laufen, Folgeerkrankungen zu entwickeln.

Abgesehen von Autoimmunerkrankungen kann EBV auch bestimmte Krebsarten wie das Hodgkin-Lymphom verursachen. Wenn man bedenkt, dass das EBV Virus normalerweise unbemerkt in unserem Körper bleibt, kann EBV fast unheimlich wirken. Während seines gesamten Lebenszyklus durchläuft das Virus verschiedene Phasen, ist unglaublich anpassungsfähig und bleibt auch in seinen inaktiven Phasen in den Zellen „versteckt“. Sind Sie einmal infiziert, bleibt EBV für immer in Ihrem Körper.

Die Beschaffenheit von EBV (sowie die weiterer menschlicher Herpesviren), macht die Entwicklung eines Impfstoffes schwierig. Nichtsdestotrotz handelt es sich um einen wichtigen Bereich der Forschung, wobei stets neue Ergebnisse vorliegen und diese einen hoffen lassen.

Es wäre zu einfach anzunehmen, dass ein solcher Impfstoff von heute auf morgen MS und alle weiteren, mit EBV verbundenen Krankheiten verhindern würde, aber er würde auf jeden Fall dabei helfen, die genaue Natur des Virus und seine Rolle bei der Entwicklung von Autoimmunerkrankungen besser zu verstehen.

Neben Viren deuten epidemiologische Studien (solche, die sich definierte Populationen anschauen) vor allem darauf hin, dass es weitere Faktoren gibt, wenn es darum geht, die Ursachen von MS genauer zu verstehen.

Epidemiologische Studien: Wer bekommt eigentlich MS?

Epidemiologische Studien helfen dabei, Muster in Bevölkerungsgruppen zu identifizieren, aufgrund derer Theorien gebildet und getestet werden können.

Was Multiple Sklerose betrifft, so ist eine der merkwürdigsten Beobachtungen, dass MS an Orten, die weiter vom Äquator entfernt sind (wie beispielsweise Kanada, Schottland oder Neuseeland, welche allesamt hohe Prävalenz­raten aufweisen) häufiger auftritt als am Äquator.

Nicht nur das, sondern auch der Beginn der Symptome tritt bei Menschen in diesen Regionen in der Regel in jüngeren Jahren auf.

Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass die Äquatornahen Länder das ganze Jahr über einen höheren UVB-Wert aufweisen. UVB stimuliert die Produktion von Vitamin D, das tatsächlich vor MS schützen kann. Man vermutet, dass Vitamin D eine positive Wirkung auf das Immunsystem hat, obwohl auch hier unbekannt ist, wie genau dies funktioniert.

In der westlichen Hemisphäre scheint das Phänomen ausgeprägter zu sein, wobei viele Länder in Nordeuropa höhere Raten aufweisen als ihre östlichen Nachbarn, welche auf einem ähnlichen Breitengrad liegen. Ob dies auf Umweltfaktoren, Genetik oder eine Kombination aus beidem zurückzuführen ist, bleibt ein Geheimnis.

Lebensstilfaktoren wie Rauchen, Alkohol oder Drogenmissbrauch sind mit einem erhöhten Risiko für MS verbunden, während eine ausgewogene Ernährung mit Fisch und den dementsprechenden Omega-3 Fettsäuren ein gewisses Schutzniveau bieten kann. Solche Lifestyle-Faktoren könnten dabei helfen, die geografischen Unterschiede in der Prävalenz von MS zu erklären.

Eine weitere Beobachtung epidemiologischer Studien ist die, dass das Risiko einer Frau, an MS zu erkranken, dreimal so hoch ist wie das eines Mannes.

Dass Frauen statistisch gesehen öfter an MS erkranken als Männer ist keine Seltenheit, da Frauen tendenziell jeder Autoimmunerkrankung gegenüber anfälliger sind als Männer. Bei anderen Autoimmunerkrankungen ist die Prävalenz sogar nochmal um einiges stärker ausgeprägt. 90% der Lupusfälle betreffen beispielsweise Frauen.

Aufgrund dessen wird angenommen, dass X-Chromosomen, von denen Frauen zwei und Männer eines haben, eine besonders wichtige Rolle bei der Entstehung von Autoimmun­erkrankungen haben. Insbesondere die skewed X-Chromosomen­inaktivierung wird als möglicher Zusammenhang­sfaktor identifiziert. Normalerweise ist bei Frauen eines der X-Chromosomen inaktiv - welches wird zufällig entschieden. Das skewed Chromosom wird inaktiviert, wenn mehr als 75% der Zellen das eine X-Chromosom über das andere bevorzugen.

Über den genauen Vorgang, wie die Inaktivierung der skewed X-Chromosomen mit Autoimmun­erkrankungen zusammenhängt, ins Detail zu gehen würde hier den Rahmen sprengen, allerdings leistet dieser englischsprachige Artikel einer Norwegischen Zeitung ausgezeichnete Arbeit, den Zusammen­hang zu erklären. Falls Sie noch tiefer in die Materie einsteigen wollen, ist diese Studie der US National Library of Medicine & National Institutes of Health zu empfehlen.

Wie bei den geografischen Unterschieden in der MS-Prävalenz bedürfen die Theorien darüber, warum Frauen für Autoimmunerkrankungen anfälliger sind als Männer, jedoch ebenfalls weiterer Forschung.

Epidemiologische Studien neigen dazu, eher mehr Fragen zu generieren als zu beantworten. Die Muster welche sie finden, bilden jedoch oft die Grundlage für die verschiedenen Forschungs­bereiche die uns helfen, die hochkomplexen Mechanismen von MS allmählich zu verstehen.

Da es sich bei MS um eine Autoimmun­erkrankung handelt, gibt es allerdings ein weiteres relevantes Forschungsgebiet.

Geheimnisse des Immunsystems

Berücksichtigt man all diese Faktoren, erscheint es als sehr wahrscheinlich, dass sowohl Genetik als auch Viren und Umweltfaktoren alle zusammen zur Entwicklung von Multipler Sklerose beitragen. Inwiefern sie dies tun, ist allerdings phänomenal komplex.

Immunologie ist ein Forschungsgebiet welches sich der Lösung der vielen Geheimnisse des Immunsystems verschrieben hat.

Da die Anzahl der Menschen, welche unter Autoimmunerkrankungen leiden stets wächst, gilt die Immunologie als enorm wichtiges Forschungsfeld.

Ein besseres Verständnis über das, was das Immunsystem tatsächlich tut, wenn es den Körper angreift, hilft möglicherweise dabei, die zugrunde liegenden Mechanismen von Krankheiten wie MS aufzudecken. Dies kann dann als Grundlage für die Behandlung dienen. In den letzten Jahren gehen biologische Behandlungen (wie beispielsweise TNF-Hemmer oder krankheitsmodifizierende Therapien wie Ocrelizumab) oftmals über eine reine Symptombehandlung hinaus und können mittlerweile sogar den Krankheitsverlauf verlangsamen.

Solche Behandlungen können Menschen mit MS dabei helfen, eine hohe Lebensqualität so lange wie möglich aufrechtzuerhalten.

Dennoch ist eine Heilung von MS (und anderen Autoimmunerkrankungen) nach wie vor nicht in Aussicht. Ebenso gibt es bis dato keine wirksamen Präventivmaßnahmen, wie beispielsweise Impfstoffe.

Um das Puzzle der MS Forschung zusammenzusetzen, bedarf es letztendlich Puzzleteile aus vielen diversen Forschungsfeldern, wie sie in diesem Artikel vorgestellt wurden. Jedes Puzzleteil trägt ein Stück dazu bei, das Bild etwas klarer zu machen. Somit werden die Möglichkeiten der Behandlung und Prävention von MS Stück für Stück größer.


Diese Artikel auf unserem MyTherapy Blog könnten Sie auch interessieren:

Screenshot der MyTherapy MS-Gesundheitstracker App

Ihr Begleiter bei der MS Behandlung

MS-Symptome sind oft unvorhersehbar. Verfolgen Sie Ihre Symptome mithilfe von MyTherapy, lassen Sie sie mit weiteren Informationen zu einem druckbaren Gesundheitsbericht zusammenstellen und teilen Sie diesen mit Ihrem Arzt.